Der Luftschutzbunker als „Tatort“

Anmerkungen zu seiner Gedächtnisfähigkeit

Wohnungsvermieter machen die Erfahrung, dass eine Wohnung sich dann schlecht vermieten lässt, wenn die potentiellen Mieter erfahren, dass darin ein Mord oder Selbstmord passiert ist. Früheres Unheil scheint sich in Wänden des Hauses einzunisten und lange fortzuwirken, als ob die schrecklichen Taten die Phantasien und Handlungsneigungen der Nachmieter „anstecken“ und so ein Haus zum Gespensterhaus machen.
Etwas Entsprechendes findet sich im Bunker. Im November 1938 zerstörten die Nationalsozialisten die Synagoge in der Friedberger Anlage in Frankfurt, vertrieben und ermordeten die Mitglieder ihrer Gemeinde. Die Zerstörung des Gotteshauses ist mit der Besonderheit verbunden ist, dass genau an seiner Stelle von französischen Zwangsarbeitern ein massiver Hochbunker errichtet wurde.
Die umfassende Errichtung von Luftschutzbunkern war bereits lange vor Kriegsbeginn und der Zerstörung der deutschen Innenstädte geplant und Teil der Strategie, einen „totalen Krieg“ zu führen. Bunker sollten diese Kriegsführung nicht nur flankierend absichern, sie waren Kampfinstrument, um eine „seelische und körperliche Mobilma­chung“ der Bevölkerung „an der Heimatfront“ herbeizuführen, bei der letzten Endes sogar die Selbstvernichtung in Kauf zu nehmen war. Luftschutzbunker waren in Wahrheit psychologische Festung, Umerziehungslager und letztlich „Angriffs-Waffe“. Sie waren alles andere als Ausdruck absehbarer nationalsozialistischer Schwäche.
Diese Zweckbestimmung war 1935 von General Ludendorff, Kumpan Hitlers und Antisemit übelster Sorte, als Grundsatzprogramm eines neuen Kriegstyps formuliert worden und nahm Bezug auf Deutungen der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg.1 Es galt, „die Seelen der Volksgeschwister auf harte Proben zu stellen“. Schwere Leiden sollten sie in den Kampf hineinziehen und kriegsfähig machen. „Im Inneren des Landes bringt der totale Krieg schwere Beunruhigung hervor, Verluste der Bevölkerung durch Fliegerangriffe weit hinter der kämpfenden Front und vielleicht steigender Hunger lassen sie (die Leiden) allgemeiner werden….bei starkem Sprechen der Volksseele in der so erzeugten Todesnot des Volkes und richtiger Einwirkung auf das Volk wird die Geschlossenheit aufrechterhalten, ja sie kann noch inniger werden“. Es gelte „im seelisch geschlossenen Volke den völkischen Willen zur Selbsterhaltung zu wecken“, „das lebende Geschlechte“ mit „den neu heranwachsenden Geschlechtern zusam­menzuschweißen in gemeinsamer Todesnot durch unerbittlichen Feind“ (106). Der Name „Luftschutzbunker“ war also reine Lüge.
Den Bunker Friedberger Anlage auf den Resten der vernichteten Synagoge zu errichten, macht ihn nun darüber hinaus zu einem seltsam mehrdeutigen Instrument der psychologischen und politischen Agitation. Als „Maßnahme der Selbstverteidigung“ sollte der Bunker die Vergangenheit dieses Ortes uminterpretieren und den Pogrom von 38 mit der Zerstörung der Synagoge als ersten Schritt eines Selbstschutzes des deutschen Volkes noch einmal rechtfertigen, als der der Pogrom von Anfang an deklariert worden war. Es ist sicher kein Zufall, dass im gleichen Jahr des Bunkerbaus in Auschwitz die Gaskammern gebaut und in Betrieb genommen wurden. Die Errichtung des Luftschutzbunkers stand in dieser Logik der angeblichen Selbstverteidigung“, die selbst den Holocaust rechtfertigen sollte (im Sinne der Posener Rede Himmlers).

Wie ging es den Menschen bei Bombenangriffen im Bunker?

Besucher des Bunkers heute werden sich die Frage stellen, wie die Menschen mit diesen Zuschreibungen umgingen, wie sie selbst bei und nach den Bombenangriffen sich hier gefühlt haben mögen, wie sie sich all das Bedrohliche und Vernichtete um sie herum erklärt haben? Stellten sie eine Verbindung zu den Trümmern der Synagoge her? Brachten sie sie in Verbindung mit der Zerstörung ganzer Straßenzüge? Hatte die Extremsituation ihren Propagandaglauben erschüttert oder Ludendorffs Erwartungen bestätigt? Empfanden sie die Schuld der Deutschen und erinnerten sie die Verbrechen, die in diesem Stadtviertel, an genau diesem Ort begangen worden waren? Weckte das bei aller Sorge um sich selbst und die eigene Familie, bei aller so gesteigerten Erregung nicht auch ein „altes Ich“, das das Vorausgegangene hervorholte? Oder hatten die manifesten Todesängste all das ausgelöscht?
Es ist nicht möglich, sie nur als Opfer zu sehen. Wohl so ziemlich alle, die 1942 im Ostend lebten und im Bunker Schutz suchten, hatten in der Nachbarschaft dieser großen Synagoge gelebt. Das Viertel galt als jüdisches. Vier Jahre vorher waren sicher nicht wenige Zuschauer oder Täter oder Mitläufer des Pogroms und der Zerstörung gewesen. Und jedes Mal, wenn sie nun bei Bombenangriffen hierhin kamen, hatten sie Reste der Synagoge an ihren Schuhen, stießen sie mit den Füßen auf hier sogar bis heute mehr oder weniger sichtbar um den Bunker herum verstreute Reste der Synagoge, alte Kacheln, Ziegelsteine, Glasscherben, die ganz offensichtlich von der Synagoge stammten (weil die umliegenden Häuser von den Bombardements verschont geblieben waren). Auch lebten vielleicht nicht wenige von ihnen nun in arisierten Wohnungen oder hatten sich mit jüdischem Eigentum bereichert! Rückte ihnen vielleicht sogar das ansonsten ständig verleugnete Wissen über Konzentrationslager nahe, wo zur gleichen Zeit an jenen, denen dieser Ort einmal heilig gewesen sein mochte, genau das exekutiert wurde, vor dem sie gerade selbst bewahrt wurden: Ersticken und Verbrennen?
Es ist nicht schwer sich zu vergegenwärtigen, dass sich die Menschen bei Bombenangriffen im Bunker immer in Zuständen höchster Erregung, in einem psychischen Ausnahmezustand befanden. Die dunklen oder nur schwach erleuchteten, bei Bombeneinschlägen zitternden Räume bildeten einen Vorstellungsraum, in dem sie von massiven Angstvorstellungen bedrängt waren. Zwar werden sie gehofft haben, verschont zu werden und mussten doch immer annehmen, dass ihr Viertel draußen derweil zu Schutt und Asche zerbombt wird, Nachbarn verbrannt oder erstickt waren. Und sie selbst – eingebettet in den Trümmern der Synagoge – im Bunker ihr eigenes Grab fänden?

Was bleibt davon bis heute?

Was sich während der Bombenangriffe in der Vorstellungswelt der Menschen auftat, verknüpfte sich mit den Bunkerwänden und –verhältnissen. Ihre Bilder, Ängste und Erinnerungen dürften aus ihren Köpfen in die Wände des Bunkers wie in einen „Schwamm“ eingesickert sein und in den Staubspuren des Bunkers wiederzufinden sein. Es gibt offenbar so etwas wie bleibende psychische „Gebrauchsspuren“.
Sie zu objektivieren gelingt zwar nicht. Doch kommt man dem Erleben der Menschen von damals nahe, wenn man versucht, sich in sie mit ihren Vorgeschichten, allgemeinen Lebensumständen, Erfahrungen, Ängsten und Motiven hineinzuversetzen. Man kann das als „Psychoarchäologie“ bezeichnen. Es geht um Vergegenwärtigungen, d.h. um innere Ausgestaltungen dessen, was man vom Ort und den Menschen erfahren hat und was man in den originalen Räumen und noch vorhandenen Dingen vorfindet, von dem man weiß, „es war damals dabei“. Wer im Bunker in den ersten Stock geht, tritt nicht nur auf ausgetretene Stufen, berührt nicht nur den eisernen Handlauf, sondern nutzt Stufen und Handlauf von jenen, die zuerst den Bunker nutzten, hier schliefen oder weinten. Man kann sogar vermuten, dass sich eingekratzte Zeichen und Schriften noch im Beton unter den 1986 frisch gekalkten Wänden finden lassen. Wie viel Abrieb von Schuhsohlen ist noch auf den Fußböden oder hängt noch im Bunkerstaub! Wie viel Angstschweiß war buchstäblich von den Wänden aufgesaugt worden. Alles natürlich tausendfach überlagert, durchmischt mit Späterem, aber eben doch vorhanden.
Es geht also weniger um bewusstes Nachdenken, auch nicht um bloße Spekulation, nicht nur um Hören und Sehen oder Lesen, sondern darum, Realia, Dingliches mit den eigenen Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Dazu gehört: Berühren, Anfassen, Inhalieren, Atmen, Riechen – eben Körpererleben. Der Beton, die herumliegenden Ziegelsteine oder Glassplitter der Synagogenfenster werden senso-motorisch durchdrungen und mit den „Kontexten des Ortes“ (W. David) verbunden, wie dies bei Dokumenten, Fotos, Replika, aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelstücken nicht möglich ist. Alle Funde bilden ein Ganzes, eine Art Hologramm, in das wir geradezu korporal eindringen können und das uns gleichzeitig mit einbezieht. Das verändert naturgemäß den „erinnerten“ Gegenstand. Er ist nicht mehr fremdes Objekt, sondern „aufgeladen“ durch Erlebnisse und Empfindungen des Betrachters.
Wir treffen uns in dem so imaginativ Veränderten schließlich immer auch selbst mit unserer eigenen Geschichte. Aber genau das macht hier und heute den außerordentlichen „Erinnerungsgewinn“ eines solchen Ortes aus. Der Eigenanteil trägt nämlich maßgeblich dazu bei, dass wir durch diese privaten „Ausmalungen“ der erhaltenen Spuren auf besondere Weise affektiv ergriffen werden. Es sind Zeit- und Gefühlsreisen in alte und zugleich aktuelle, durch die eigene Subjektivität umgestaltete Wirklichkeiten, die auf besondere Weise wahr sind. Letztlich ist es das, was uns oft dazu bringt, uns gesellschaftspolitisch zu engagieren.
Wer das für bloßes Spekulieren hält, dem sei entgegnet, dass ein anderer Erinnerungsmodus gar nicht möglich ist: eine objektive Geschichte, ein von einem solchen subjektiven Eingriff freies autonomes Objekt, Relikt, Ort, Bau, Mensch usw., ohne eigene Zutat, ohne Umkonstruktion gibt es überhaupt nicht. Wir erfahren Geschichte nicht als „flash back“.
Daraus ist abzuleiten: durch diese persönliche „Aufladung“ des Ortes und der hier noch vorhandenen Dinge kann die heutige junge Generation die hier vorhandene Geschichte mit größerer Empathie nachempfinden und nachkonstruieren. Sie wird angeeignet. Die heutigen Besucher kommen dem, was Schutzsuchende früher hier erlebt haben, mindestens der Form nach näher, weil letztere ihre „wirklichen Erlebnisse“ zumeist schuld- und schambedingt entstellt, durch Denkhemmungen verändert haben. Die wissenschaftlichen Belege für solche nachträglichen Entstellungen eigener Geschichte sind zahlreich.
Nachkommende Generationen müssen die Geschichte der damals Lebenden und ihre Taten nun aber nicht mehr fürchten. Die „alten Geschichten“ lassen sich also ohne eigene Schuld imaginativ nacherleben. Das macht dieses sekundäre Erinnern höchst relevant für alle heutige Gedächtnis- und Gedenkstättenpsychologie.
Zu all dem gehört die möglichst bewahrte Originalgestalt des Bunkers. Ebenso gehört dazu, dass die Menschen den Raum, die Gegenstände und Dokumente in der Weite des Bunkers in einem Zustand besonderer Nachdenklichkeit, d.h. möglichst ungestört erleben können und dabei jeder für sich sein kann.
So wird der Bunker in diesem Zustand auch ohne die Zeitzeugen der ersten Generation ein einzigartiger Aufklärer über die örtliche Vergangenheit, die hier begangenen Verbrechen und darüber, wer man früher selbst gewesen sein könnte bzw. heute ist. Wiederholt sei, dass es dafür besonders wichtig ist, die schon einmal nachgewiesenen Fundamente der Synagoge auszugraben. Damit soll der Bunker umrahmt werden und ein architektonischer Zusammenhang entstehen, der die Zerstörung der Synagoge mit dem „totalen Krieg“ in eine ursächliche Verbindung bringt. Deutlicher als jeder Gedenkstein, jedes Denkmal vermag dann dieser Ort die verhängnisvolle Komplexität und Steigerung antisemitischer Verbrechen mitten in Frankfurt unübersehbar darzustellen. Wer die dafür unerlässliche Originalität des Ortes nicht erhalten, grundlegend verändern, den Bunker sogar abreißen will, zerstört all seinen Erkenntniswert.

29.9.19

Wolfgang Leuschner