Grabungsprojektantrag an Stadt

Antrag auf Förderung einer Studie
zur Vorlage bei der Stadt Frankfurt am Main

Erinnern oder Zerstören:
Zur Gedächtnisfunktion von städtischer Architektur dargestellt am Beispiel der Geschichte der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main

Antragsteller:
Dr. Kurt Grünberg und Dr. Wolfgang Leuschner
Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main

Ausgangsthesen, Ziel und Relevanz der Untersuchung

Das geplante Projekt geht von der These aus, daß Städte – wie Alexander Mit­scherlich es nannte – wichtige psychische Funktionen als „Psychotop“ haben. Stadtarchitektur, Stadtgeschichte sind als „Prägestöcke“ für die Ich-Bildung zu verstehen und stellen damit einen wichtigen psychischen Gebrauchswert für die Menschen dar. Diese Funktion muß heute grundlegend bedacht und untersucht werden, weil sie verloren zu gehen droht. Die Städte versagen zunehmend, so­ziale Bindungen und menschliches Miteinander unter Bezugnahme auf Geschichte (in gewachsenen, geschichtlichen Strukturen) zu fördern. Wenn man die Stadt als notwendigen Teil des menschlichen Gedächtnisses (vgl. die Arbeiten von Ass­mann und Halbwachs) verstanden hat, sind Stadtpolitik und städtische Kulturpolitik heute um so mehr herausgefordert, sich als Organisatoren und Konstrukteure von kulturellem Gedächtnis und subjektiven Erinnerungsmöglichkeiten zu verstehen, um den Städten ihre psychotopische Funktion zu bewahren.

Die Ursachen für den genannten Wandel liegen auf der Hand:

  1. Zerstörung der Architektur im Kernbereich der Städte im Zweiten Weltkrieg;
  2. Mit der gesamtgesellschaftlich zunehmenden Mobilisierung, zeitlichen Ver­kürzung und Verflachung von sinnlichen Wahrnehmungen (Stichwort: Visualisierung) werden die Menschen zunehmend aus ihren sozialen Zusammenhängen herausgerissen. Film, Fernsehen, Computer-Spiele, Computeranimation, maschinelle Bilderkennung sind heute zur hege­monialen Form der Wahrnehmung geworden. Ständig neu entwickelte Techniken der Bildproduktion bestimmen zunehmend die sozialen Pro­zesse und das Gefüge von Institutionen. Die historisch gesehen wichtigsten Ich-bildenden und – damit verbunden – Beziehungs-bildenden Funktionen der Stadt werden auf diese Weise durch Autismus fördernde Praktiken ersetzt, in denen die Menschen den Kontakt zueinander und zu sich selbst verlieren (Stichwort: „Korrosion des Charakters“ von Richard Sennett).

In ganz besonderer Weise betrifft dieser genannte psychische Funktionsverlust die Stadt Frankfurt am Main: Die seit 1945 „bis zum Verwechseln amerikanisier­teste“ unter den deutschen Städten (neben Tokio) zeichnet sie sich aus als die Stadt mit der weltweit radikalsten Trennung von Wohnen und Arbeiten. Sie ist die Stadt mit den meisten Single-Haushalten.

Die als Ausdruck ihrer besonderen Dynamik gepriesene rasante architektonische Wandlung und die „Verdünnung“ von Beziehungen erscheint vielen zwar als attraktiv, weil ihre Kultur in einer Welt zunehmender ökonomischer und sozialer Flexibilität erleichterte Anknüpfungs- oder Bindungsmöglichkeiten zu versprechen scheint, die anderswo eher abgewiesen werden. Die multikulturelle Stadt scheint einen hohen Anteil Nicht-Deutscher offenbar mühelos zu integrieren.

Aber diese Offenheit „verdankt“ sie – und das ist eine These, die diesem Antrag zugrunde liegt – zugleich und auf mehrfache Weise den Nazi-Verbrechen. Die aktuelle Kultur aller deutschen Städte wird davon – wie eine Landschaft von einem unterirdischen Strom – unsichtbar mitgestaltet. Es gibt heute in Deutschland keine Stadtkultur ohne die verheerenden Auswirkungen dieser Geschichte und ihrer Verwurzelung im individuell Unbewußten, einer Verwurzelung, die von psychi­schen Abwehrvorgängen geprägt ist, die aus jener Geschichte ebenso resultieren, wie es jene miterzeugte. Diese Geschichte prägte das Psychotop Stadt nach dem Krieg. Sie läßt sich für das Bewußtsein vergessen machen, aber sie läßt sich nicht unwirksam machen, weil sie unterschwellig fortwirkt. Als Wissen ist sie nicht abrufbar, aber sie wird „agiert“.

Frankfurts tausendjährige bürgerliche Großstadtkultur war wie kaum sonst vom Zusammenleben mit den Juden geprägt (Stichwort: Universitätsgründung, Bank­wesen, Mäzenatentum). Die Vertreibung und Vernichtung der Juden durch die Nazis zerstörten das Gefüge der Stadtkultur grundlegend, was eine sehr folgen­reiche Leere erzeugte. Sie wollte rasch und umstandslos gefüllt werden, damit eines unsichtbar gemacht werden konnte: Schuld und Verstrickung. Das ist bis heute ein wesentlicher Entwicklungsmotor dieser Stadt, sowohl was ihre Architek­tur, ihre Ökonomie als auch ihre nationale und internationale Geltung ausmacht.

Daß der Auschwitz-Prozess in Frankfurt stattfand, daß die Börneplatz-Bebauung auf erheblichen öffentlichen Widerstand stieß, daß es heute eine digital abrufbare Topographie des Nationalsozialismus gibt u.a.m., hat seinen Grund auch im Wei­terwirken dieser Schuldfrage. In diesen Fällen äußerte sie sich allerdings in aufklä­rerischer Weise.
Die heute anstehenden architektonischen Veränderungen im ehemaligen „jüdi­schen Ostend“, die Errichtung der Europäischen Zentralbank auf dem Gelände der Großmarkthalle – der Ort, von dem aus die Juden aus Frankfurt deportiert worden sind – treffen auf diese geschichtlichen Dimensionen. Werden sie von den Akteuren wahrgenommen? Wird diesen Zusammenhängen Rechnung getragen? Was „darf“ von in dieser Stadt sichtbar werden?

So wie Geschichte zwar verborgen, aber letztlich nicht vergessen gemacht werden kann, so läßt sich umgekehrt – und dies ist unsere zweite Hypothese – die Erinne­rung an Vergangenes auch nicht einfach aktivieren, didaktisch aufbereiten, orga­nisieren oder dramatisieren. Der Imperativ „Du sollst Dich erinnern!“ fruchtet aus vielen Gründen nicht (vgl. dazu Jan Philipp Reemtsma, Mittelweg 36). Solcher­maßen organisiertes Gedenken provoziert immer auch jene Memorisierungs­abwehr, dem das Geschehene selbst schon ausgesetzt war. Hierin gründet die resignative Idee, „die Menschen könnten aus der Geschichte nicht lernen“. Das genannte Agieren ist aber eine andere Form des „Lernens“. Mit „Agieren“ ist ein vom Widerstand geprägtes Erinnern gemeint, ein „Wiederholen, ohne es zu wis­sen“, zu dem das „Lernen“ schon deshalb gehört, weil sich Widerstand ständig aktualisieren, an jeweilige Gegebenheiten anpassen muss. Ebenso wie „Verges­sen“ ist Agieren gerade und besonders eine soziale Konstruktion. Stadtkultur, Stadtarchitektur sind dessen „Erfüllungsgehilfen“. Agieren ist immer dann ein Muss, ein automatischer Drang, wenn ein Wissen infolge von Nichtanerkennung (Scham und Schuld) abgewehrt werden muß.

Warum erfolgt diese Untersuchung am Beispiel des Bunkers Friedberger Anlage?

Das Aufdecken von historischen Ereignissen und Konflikten, ihrer subjekti­ven Bedeutungen und ihrer Auswirkungen auf eine Stadtkultur kann an die­sem Ort deshalb besonders gelingen, weil – so unsere Hypothese – der Bunker einen Stillstand der Geschichte erzeugt hat. Der Bunker hat Hinter­gründe, die zum Holocaust führten in gewisser Weise konserviert. Er kann als „Friedhof“ gelten, der psychoarchäologische „Grabungen“ erfolgver­sprechend macht, weil er in sich oder aus sich heraus eingefrorene Inhalte birgt, die durch den Lauf der Zeit weniger entstellt worden sind, als anderswo (Stichwort Börneplatz in Frankfurt). So sehr der Bunker den Zugang zur Geschichte zu versperren scheint, bringt er – durch die gezielte praktische Annäherung und seine Öffnung – paradoxerweise Geschichte auf authentische Weise wieder zum „Reden“.

Der Bunker, auf einem zerstörten jüdischen Sakralbau errichtet, steht para­digmatisch für eine bedeutsame Tendenz bei der formalen Gestaltung gesellschaftlicher Konflikte – ihre „Sakralisierung“. Das ist die Verankerung der Konflikte in Religiösem. Sie hat das Ziel, Konflikte paranoid weiter auf­zuladen durch Mißbrauch historisch zustande gebrachter Spaltungsmuster. Die Geschichte dieses Ortes steht für das Konfliktmuster der Neuzeit, das heute als Paradigma gesellschaftlicher Konflikte wieder sichtbar wird. Aktu­elle globale Konfliktmuster werden so im Widerschein von Stadtgeschichte beobachtbar.

Die Untersuchung berührt schließlich die Frage nach psychischen und sozialen Funktionen von Städten. Die Gründung der Israelitischen Religi­onsgesellschaft (IRG) in Frankfurt, der Gemeinde der zerstörten Synagoge, erweist sich im Rückblick als ein besonders bedeutsamer Versuch, inwie­weit eine friedliche Koexistenz von Menschen verschiedener Religion und Herkunft in einer Stadt herbeigeführt werden kann. Entschiedener als andere hatte die IRG die heute unverändert relevante Frage gestellt, wel­che Bedingungen in einer Stadt dem friedlichen Zusammenleben der Men­schen in einer sich strukturell verändernden Gesellschaft dienen können und welche ihm entgegenstehen.

Durchführung der Studie:

Gegenstand der Untersuchung ist nicht eine Realgeschichte des Bunkers an der Friedberger Anlage, die als bekannt vorausgesetzt und hier nicht weiter dargestellt wird. Methodisch geht es nicht um eine Sammlung oder Bestandsaufnahme von historischen Daten und Zeugnissen, sondern um eine aus einer Praxis des Sicht­barmachens hervorgehende und so begründete psychohistorische Untersuchung. Sie soll sich entlang der Öffnung, einer praktischen Veränderung des Bunkers und der Erschließung möglicherweise noch vorhandener Synagogenreste entwickeln, mit dem Ziel, über die praktische Umgestaltung hinaus, aufzudecken und zu sichern, was diese praktische Veränderung sozial hervortreten läßt. Gegenstand der Untersuchung ist die Beobachtung und Analyse der so hervorgerufenen viel­fältigen und vielschichtigen Reaktionen (Stellungnahmen, Erinnerungen und Erin­nerungsabwehr) der verschiedenen direkt und indirekt betroffenen Personen und Personengruppen (die Bevölkerung des Stadtviertels und die weitere politisch kulturelle Öffentlichkeit). Denn alles Verändern des gegenwärtigen Zustandes führt – wie wir vermuten – notwendigerweise zu Auseinandersetzungen über die Defini­tion dessen, was war: Das Tun wird, so die Hypothese, zu einem „Kampf um die Erinnerung“, geprägt von der Tendenz, Geschichte gemäß den eigenen Bedürf­nissen rückwirkend zu konstruieren und festzuschreiben.

Die aus der Gegenwart stammenden Daten werden damit als „historische Doku­mente“ interpretiert, aus denen die Geschichte dieses Ortes und die Geschichte der mit diesem Ort verbundenen Menschen rekonstruiert und gedeutet werden kann. Aktuelle Reaktionen werden nun zu historischen Quellen wissenschaftlicher Forschung, die Untersuchung methodisch eine durch Praxis stimulierte Psycho­archäologie.
Die Studie ist eingebettet in einen bestehenden Forschungsschwerpunkt des Sig­mund-Freud-Instituts, in dem Erinnerungsprozesse an extremtraumatische Verfol­gungserfahrungen von Überlebenden der Shoah und ihre Tradierung an nachfol­gende Generationen untersucht werden. Das SFI hat in der Arbeit am Ort der zer­störten Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft eine einzigartige Praxis vorgefunden, die das eigene Forschungsprogramm entscheidend ergänzt.

Praxisfeld:
• Ausstellungsbegleitung
• Organisation von Veranstaltungen
• Veranlassung der Grabung nach vermuteten Fundamenten der Synagoge
• Architektur- und künstlerischer Wettbewerb zur Aufbrechung/Veränderung des Bunkers

Materialsammlung:
• Interviews z.B. mit BesucherInnen der Ausstellung im Bunker „Ostend – Blick in ein jüdisches Viertel“
• Auswertung von Diskussionsbeiträgen bei Veranstaltungen im Bunker
• Analyse der Berichterstattung in den Medien zu den Aktivitäten am und im Bun­ker

Wissenschaftliche Auswertung dieses Materials:
• Entwickeln von Kategorien, die die historischen Dimensionen aus den aktuellen Reaktionen sichtbar machen
• Prozess des Agierens erfassen
• Können daraus Folgen auf die Wahrnehmung gegenwärtiger gesellschaftlicher Konflikte, Widersprüche, Antagonismen, abgeleitet werden?

Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualifikation und weil sie durch ihre vorange­gangene Tätigkeit bereits umfangreiche Erfahrungen zu diesem Forschungs­bereich sammeln konnte, soll Frau Dr. Beate Scheunemann mit der Durchführung dieses Forschungsprojektes beauftragt werden.

Frankfurt am Main, den 14. Mai 2004