Erinnerungen von Trude Simonsohn im Herbst 2002

Trude Simonsohn bei der Veranstaltung: Es wären 100 Jahre zum Jubiläum der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft. (c) 2007 Edith Marcello

Im Herbst 2002 führten Dr. Beate Scheunemann und Elisabeth Leuschner- Gafga ein Gespräch mit Trude Simonsohn in deren Wohnung im Westend in Vorbereitung der Gedenkfeier zum 27. Januar 2003 im Historischen Museum Frankfurt, die die erinnerungspolitische Gruppe „Ausgegrenzte Opfer“, in der die Initiative 9. November“ jahrelang mitwirkte, organisiert und durchgeführt hat. Diese kleine biografische Skizze folgt der Erzählung Trude Simonsohns und vermittelt auch etwas von der Stimmung während des Gesprächs. Der Text wurde in der Gedenkfeier vorgetragen.

Trude Simonsohn, geb. Gutmann ist 1921 in Olmütz in der Tschechoslowakei, heute Tschechien geboren. Olmütz ist geprägt vom selbstverständlichen, guten und friedlichen Miteinanderleben von Tschechen, Juden und Deutschen im Staate Masaryks. An ihm schätzt Trude Simonsohn, dass er den Juden nicht nur die eigene Religion, sondern auch eine eigene jüdische Nationalität zugestand.

Trude Simonsohn bewegt sich von klein auf in beiden Sprachen. Ohne es zu merken wechselt sie vom Tschechischen ins Deutsche und wieder ins Tschechische. Sie besucht die tschechische Grundschule und hat zusätzlich Privatstunden bei einem deutschen Hauslehrer. Die Eltern legen Wert darauf, dass ihre einzige Tochter eine gute Bildung bekommt und beide Sprachen fehlerfrei beherrscht.

Der Vater stammt aus Bisenz in Südmähren. Er ist Großhändler für Getreide. Die Mutter kommt aus dem Sudetengebiet und führt einen Modesalon für Hüte. Als Modistin ist sie in Wien ausgebildet worden – für die damalige Zeit noch ungewöhnlich. Trude Simonsohn erlebt sie als eine emanzipierte Frau, wie es auch schon die Großmutter war. Diese, früh verwitwet mit vier Kindern, übernimmt eine Stickerei- und Plissieranstalt in Olmütz mit bis zu 15 Angestellten. „Ich war nur von emanzipierten Frauen umgeben“, erzählt Trude Simonsohn „und heute kann ich sagen, meine Mutter hatte ein besonderes pädagogisches Talent.“

Es geht der Familie in Trudes Kindertagen wirtschaftlich gut. Sie selbst wird schon als kleines Kind in den verschiedensten Sportarten unterrichtet. Mit vier Jahren kann sie schwimmen, läuft mit Begeisterung Schlittschuh und Ski, betreibt Leistungssport und gewinnt in Olmütz die Juniorenmeisterschaft im Tischtennis. Heute noch spielt sie mit dem Enkel. Es ist nicht lange her, dass er gewinnt. Beim ersten Mal argwöhnt er, dass die Großmutter ihn extra habe gewinnen lassen. „Wer weiß“, sagt Trude Simonsohn, „ob mir das viele Körpertraining nicht später geholfen hat zu überleben.“

Die Mutter gibt ihren Hutsalon auf, als die ersten Konfektionshüte auftauchen. Für sie ist ein Hut ein Kunstwerk, das für jede Frau individuell entworfen wird. Auch der Vater, erinnert sich Trude Simonsohn, war ein Kunstfreund. Er schätzt schöne Möbel und Bilder. Das Wohnzimmer richtet er ganz im Biedermeierstil ein. Hier steht Trudes Bett. Ihrer kindlichen Erinnerung haben sich diese Möbel besonders eingeprägt. So erkennt sie mühelos nach dem Krieg den väterlichen Biedermeiersekretär in einem Museum in Olmütz. Sie zieht eine Schublade auf und schaut auf ein Foto ihres Vaters.

Der Vater ist Zionist. Ihm vor allem verdankt Trude Simonsohn, dass sie sich schon früh bewußt als Jüdin versteht. Auch politisch orientiert sie sich an ihm. Mit 15 Jahren schließt sie sich der sozialdemokratischen zionistischen Jugendbewegung an: der Makkabi-Hazair. Das bedeutet nicht, dass sie sich anderen Einflüssen in ihrer Umgebung verschließt. Alles ist Teil einer einzigen Welt. Sie haben zuhause zwar keinen Christbaum, aber sie habe sich doch immer an Christbäumen und am Weihnachtsmarkt in dem katholischen Olmütz gefreut.

Ab ihrem 10. Lebensjahr besucht Trude Simonsohn das deutsche Realgymnasium mit 9 Mädchen und 21 Jungen in der Klasse, unter ihnen viele jüdische Schüler. März 1939 marschiert die deutsche Wehrmacht in Prag ein. Der tschechoslowakische Staat wird zerschlagen. Es entsteht das Protektorat Böhmen und Mähren, jetzt Teil des deutschen Staates.

Ein Jahr vor dem Abitur – Trude Simonsohn ist 18 Jahre alt – geht sie in die Schule, um sich abzumelden und ihr Zeugnis abzuholen. Ihr Klassenlehrer bedauert zutiefst, dass seine gute Schülerin abgeht und will sie halten mit dem Satz: „Ich werde dich beschützen.“ Das hat Trude Simonsohn nie vergessen, auch nicht ihre Antwort: „Ich glaube, Sie können mich nicht schützen.“ „Woher hatte ich die Hellsichtigkeit damals?“, fragt sie sich.

Die Zeiten sind vorbei, in denen der Vater morgens lange schläft und sie in die Schule eilt; die Mahlzeiten – ganz nach böhmischer Küche – mittags wie abends gemeinsam zuhause eingenommen werden und der Vater danach regelmäßig ins Kaffeehaus geht.

Am 1. September 1939 – mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – wird der Vater verhaftet und als Geisel in das KZ Buchenwald verbracht. Trude Simonsohn will nach Palästina. Zur Vorbereitung für ein Leben dort geht sie im April 1939 mit einer Gruppe Gleichgesinnter aufs Land und lebt wie in einem Kibbuz auf einem Gut als Landarbeiterin. Als Mädchen muss sie vor allem Hausarbeit wie Kochen und Waschen verrichten. Sie lernt Melken. Hart ist das Rübenernten. Um sich die Zeit zu verkürzen, dichten sie nach Schiller und Goethe:

„Festgemauert in der Erden steht die Rübe weit im Land,
heute muss die Reihe werden, frisch Gesellen seid zur Hand.
Die Rübe war müde und sprach zum Gras:
„Was ist denn das?
Sagen Sie dem Statkarsch (Gutsbesitzer):
„Leck mich am Arsch.“

Trotzdem hat Trude Simonsohn die Feldarbeit gemocht. Die Fahrt mit dem Ochsengespann, das sie alleine lenkt, ist für sie die Krönung dieser Zeit. Einer Zeit, in der sie in der Gruppe großen Halt findet, wie sie zusammen Iwrit lernen, die Historiker lesen, Martin Buber, Sigmund Freud studieren. Dieser Halt untereinander, die wechselseitige Anteilnahme am Leben der Anderen hat nie aufgehört und stärkt auch heute die Überlebenden.

Später gelangt Trude Simonsohn in den Besitz des wichtigsten Papiers, um nach Palästina einreisen zu können: das Wizozertifikat. Es nützt ihr nichts mehr. Die Deutschen lassen ab 1941 niemanden mehr ins ‚feindliche Ausland‘ reisen. Sie macht weiter Jugendarbeit im Makkabi-Hazair, jetzt illegal seit dem Verbot.

Im Juni 1942 wird Trude Simonsohn verhaftet und als politischer Häftling mit dem Tode bedroht. In der Haft erfährt sie von dem Tod ihres Vaters im KZ Dachau. Die Mutter wird in dieser Zeit nach Theresienstadt deportiert. Der deutsche Polizeipräsident von Olmütz hilft ihr persönlich, dass sie auch nach Theresienstadt kommt. Ab jetzt ist sie kein politischer, sondern „rassischer“ Häftling. Die Hilfe dieses Mannes vergisst sie nicht. Die Deutschen in Olmütz indessen haben sie seit dem Einmarsch deutscher Truppen von heute auf morgen geschnitten.

In Theresienstadt lernt sie Bertold Simonsohn kennen und heiratet ihn nach jüdischem Ritus vor beider Deportation nach Auschwitz. Bevor sie auseinandergerissen werden, verabreden sie, sich in Theresienstadt zu treffen – wenn sie überleben. Im Sommer 1945 sehen sie sich hier wieder. Nach Stationen in Prag, Davos, Zürich und Hamburg kommen sie 1956 nach Frankfurt am Main.

Trude Simonsohn wird immer wieder gefragt, wann und warum sie nach Deutschland zurückgekehrt sei. „Ich bin nicht nach Deutschland zurückgekehrt“, stellt sie klar, „ich kenne Deutschland nur hinter Stacheldraht. Ich bin mit meinem Mann gekommen und ich wäre mit ihm bis ans Ende der Welt gegangen.“

Frankfurt, im Januar 2003 Elisabeth Leuschner- Gafga und Dr. Beate Scheunemann