Antisemitismus in Frankfurt

Über Antisemitismus, Neo-Nazis und Zivilcourage in Frankfurt am Main

In letzter Zeit erweisen sich die politische Führung, die Parteien, Justiz, Medien und die Polizei unserer Stadt als unfähig, einen zunehmend offen und zunehmend gewalttätig sich äußernden Antisemitismus wirksam in die Schranken zu weisen. Zur Rechtfertigung ihres Unvermögens weisen ihre Vertreter zwar immer wieder auf die Rechtslage hin, dass NPD und DVU nicht verboten seien. Gleichzeitig erweisen sie sich als blind für die Möglichkeiten, eigene Macht konsequent zu nutzen und zu präsentieren. Ersatzweise rufen sie die Bevölkerung auf, gegen „braune Flut“ und den Antisemitismus Zivilcourage und aufrechte Gesinnung zu zeigen. Zugute halten könnte man dem noch den Gedanken, dass das Problem des Antisemitismus und der Staatsfeindschaft nicht auf die Existenz und Aktivität von rechtsextremen Parteien beschränkt ist und insofern eine Sache aller. Die Ereignisse zeigen jedoch immer wieder, dass couragiertes Handeln angesichts des Ausmaßes von Gewalt, mit der man es zu tun bekommt, Einzelne völlig überfordert und zu sehr ängstigt, zumal sie sich durch das Verhalten von Polizei und Justiz regelmäßig allein gelassen und demotiviert sehen. Wie auch nicht, wenn eine insbesondere durch ihren Legalismus sich selbst lähmende Staatsmacht versagt.

Zur Organisationsweise der Neonazis
Die Gründe für dieses Versagen aller liegen in der Unschärfe, in der Schwerfassbarkeit der Organisationsstrukturen der Extremisten. Antisemitismus/Rassismus sind alles andere als ein Problem von ein oder zwei Parteien und ihren Vorständen (die die CDU meint im Auge behalten zu müssen und damit bekanntlich deren Verbot unmöglich macht). Vielmehr sind die Neo-Nazis als eine diffus daherkommende „Bewegung“ organisiert, als weit verzweigtes Netzwerk einer primär sozialpsychologisch bestimmbaren „Gesinnungsmasse“, das von Menschenhass und Größenwahn gezeugt und von Strukturen zusammengehalten wird, die weit mehr als die zugelassenen Parteiapparate umfassen, sondern ins bloß Psychologische hineinreichen oder von ihm ausgehen. Das Organisationsprinzip folgt dem Konglomerat-Modell eben des „Systems“, das sie im Staat sehen und abschaffen wollen.

Zu seiner Bildung und seinem Erhalt braucht es keine Führer, wer sie sucht, sucht vergebens. Das „Netz“ umfasst verschiedene Untergruppierungen: im Untergrund gut organisierte Kader, (einige von ihnen sollen langfristig als Avantgarde fungieren, vergleichbar der Vorreiter-Rolle die einstmals die SA innehatte). Dazu gehören ferner Nazirock-bands, rechtsextreme Studentengruppen, web-site-Netzwerke und zur Peripherie hin auch lose organisierte Schlägergruppen, Stammtische und spontan sich bildender Mob. Selbst Einzelgänger, die bei antisemitischen Taten gefasst worden sind und nicht mit Naziparteien oder -gruppen kooperieren, sollte man diesem Netzwerk hinzurechnen. Sie assoziieren sich ihm oft nur vorübergehend, sind darin aber wenigstens ideell eingebettet und folgen „stillen“ Mandaten, die man mit posthypnotischen Aufträgen vergleichen könnte. Zum Rande hin ist das Netzwerk offen und anschlussfähig auch für ambivalente bürgerliche Schichten. Insgesamt kann man es – um ein Bild aus der Biologie zu gebrauchen – mit Wechseltierchen vergleichen, die mit ihren Pseudopodien zu einem großflächigen Geflecht oder Organismus-Verbund zusammenzufließen vermögen.

Sein „Gravitationszentrum“ bildet ein kollektiv angestrebtes Handlungsziel, das noch nicht öffentlich benannt werden darf, auf das sie (noch) nur stillschweigend hindrängen, das jedoch langfristig laute Tat werden will. Die Neonazis selbst bezeichnen es als „Tabu“, das – wie es in einem Nazirocklied heißt – ihnen „die Kehle zuschnürt“ und sie meinen damit eine Hasslust, Ressentiments anzuheizen, Pogrome anzustacheln und schließlich Juden und andere Minderheiten wieder zu vernichten. Belege für diese Behauptung sind zu finden in unverhüllten Äußerungen bei geheimen Versammlungen junger Nazikader, in den Hassgesängen der so genannten Nazirock-Musik, bei Bemerkungen, mit denen die Gewalttaten gegen Migranten und Hilflose vom Zuschauer-Mob begleitet werden oder auch – wie es im Falle eines Vorstandsmitgliedes der Initiative 9. November bis heute zu sehen ist – im Internet in Morddrohungen und Karikaturen à la Stürmer und schließlich in ihren Taten.

All dies ist aber erst möglich, weil es vom Rechtsstaat hingenommene Parteien gibt, die als deren sicheres „Gehäuse“ fungieren können. Insofern sind diese Parteien – trotz ihres manchmal geradezu lächerlichen Erscheinungsbildes – wesentlicher Teil des Netzwerkes, also pseudolegaler Arm einer kriminellen Vereinigung. D. h., NPD und DVU schaffen im Öffentlichen jenen Raum, unter dessen Schirm die kryptisch gehaltenen Gesinnungen sich beheimaten, weiterentwickeln und die Kader und ihre „Gesinnungs-Ausbildungslager“ weiter ausbauen können.

Um diese „Gehäuse“ -Funktion langfristig erfüllen zu können, ist es das spezielle Ziel dieser Parteien, die Gewährleistungsfunktion und damit die Teilhabe am Netz zu vertuschen. Es geht ihnen darum, nach Außen hin genau jene Legalität zu präsentieren und damit jene öffentliche politische und juristische Ohnmacht zu erzeugen, die Politik und Justiz heute ins Feld führen, wenn sie gegen diese Parteien glauben nicht vorgehen zu können. Das basale Gewährleisten von Kadern, Gesinnungsmob und „Hetzmeuten“ darf nicht gefährdet werden. Zudem schafft das Anschlussmöglichkeiten für zunächst furchtsam Nichtorganisierte, die die Gesinnungen teilen. So zielen die Strategien und Taktiken der Antisemiten also darauf, ihre Absichten möglichst im Bereich von „Vorstraftatbeständen“ zu halten, so dass ihr Tun in den toten Winkel der Justiz und der Verfassungsorgane fällt.

Dies suchen sie zu allererst durch arbeitsteiliges Vorgehen zu erreichen. Um dessen Prinzip zu verdeutlichen, sei auf die Technik des rassistischen „Wechselgesanges“ hingewiesen. Wie man z.B. in der Nazi-Rock-Szene beobachten kann, werden dazu Aussagen in Teile zerlegt. Diese Teile werden dann von jeweils unterschiedlichen Personen oder Personengruppen geäußert bzw. „aufgeführt“. So singt eine Naziband z.B. den Text „wir machen Deutschlands Straßen“, singt den Text jedoch nicht weiter, um an ihrer Statt die Fans das vereinbarte Ende „türkenfrei“ grölen zu lassen. Zusammengezogen ist die Sache gesagt, keiner scheint jedoch haftbar gemacht werden zu können.

Eine weitere Technik besteht in der Verundeutlichung konkreter Vorstellungen und Vorhaben, eindeutiger Zeichen und Symbole. Sprachliche Aussagen und Bilder, die die Ziele und die Zugehörigkeit zur rechtsextremen Organisation zum Ausdruck bringen sollen, werden dabei nur in angenäherter Form formuliert oder gezeigt. Aus „Heil Hitler“ wird „H H“ oder „8 8“, aus der „jüdischen Weltverschwörung“ das Wort „Ostküste“, genutzt werden Erkennungszeichen, die scheinbar nichts mit einem rassistischen Ziel zu tun haben (weiße Schnürsenkel in Springerstiefeln, Lonsdale-Pullover), die sich durch Vereinbarungen schnell auswechseln lassen. Operiert wird also mit Verschiebungen auf scheinbar bedeutungslose Nebenaspekte.

Ihren Menschenhass rechtfertigen die Antisemiten damit, dass sie sich den Vernichtungsabsichten ihrer Feinde ausgesetzt sehen; sie betrachten sich also als deren Opfer und zwar im Kollektiv, dem sie sich zugehörig fühlen. Ihr „Denken“ operiert dabei mit Umkehrung und Projektion. Ihre Organisationen und Netzwerke sind folgerichtig das Abbild dessen, was sie behaupten, bei den Juden der so genannten „Ostküste“ vorgefunden zu haben. Um die Projektionen wahrer erscheinen zu lassen, operieren sie mit der Technik, Minderheiten systematisch solange zu provozieren, bis diese sich wehren, um aus diesen Re-Aktionen dann die Legitimation zum „Gegenschlag“ zu beziehen.

Auf diese Taktiken der Arbeitsteilung, auf diese Produktion der Verschleierung ist hinzuweisen, um damit deutlich zu machen, dass das, was Politik, Justiz und Medien landesweit, aber eben auch in Frankfurt gegen die Neo-Nazi-Bewegung unternehmen, unangemessen, ja sträflich ignorant ist. Indem die staatlichen und städtischen Ordnungsmächte legalistisch bleiben, erliegen sie der Strategie ihrer Feinde. Wer Zivilcourage fordert, muss wissen, dass er eine Konfrontation mit einer „Bewegung“ verlangt.

Zur Situation der Frankfurter Anti-Nazi-Gruppen
Deshalb ist es angemessen, dass sich die Menschen in Gruppen, in Bürgerinitiativen organisieren. In Frankfurt kann man allerdings beobachten, wie sie auch dabei nicht nur nicht ausreichend unterstützt, sondern in ihrer Arbeit irritiert, allein gelassen und falsch bewertet werden. Unter anderem deshalb auch ist die Frankfurter Protestbewegung gespalten, in ein „Römerbergbündnis“ und die „Anti-Nazi-Koordination“. Während das „Römerbergbündnis“ auf friedliche „Haltungen“, Distanz und rote Karten setzt, stellt ihm die Anti-Nazi-Koordination „zivilen Ungehorsam“ und Konfrontation entgegen. Dieser Unterschied ist entscheidend und man kommt – aus der oben dargelegten Perspektive heraus betrachtet – nicht umhin, Partei zu ergreifen. Denn es ist vor allem die Anti-Nazi-Koordination, die eben jenes dunkle und gefährliche und (diffus) organisierte Gewaltbestreben des Neo-Nazi-Netzwerkes ernsthaft ins Auge fasst und anzugehen sucht.
Weil staatliche Repressionsmittel nicht angewendet werden und weil sich Ordnungsmächte für das Gesamt der Neo-Nazi-Bewegung blind geben, bleibt es dieser Gruppe überlassen, die Gesinnungen, die Substrukturen und die geheimen Verbindungslinien zwischen legalen Parteien und den rechtsextremistischen Untergrundstrukturen zumindest ansatzweise öffentlich sichtbar zu machen. Es ist die Anti-Nazi-Koordination, die hier die Neo-Nazis provoziert, jenes Latente, die untergründigen Seite, die auf rassistische und antisemitische Gewalt aus ist und das Wesentliche dieser Bewegung ausmacht, ans Tageslicht zu bringen. Das ist ihr großes Verdienst und sonst müsste es sie gar nicht geben. Davon profitieren schließlich Römerbergbündnis und die Stadt.

Erstaunlicherweise reagieren Politik, Ordnungsmächte und Medien aber paradox. Anstatt die Leistung dieser Gruppierung anzuerkennen, wird deren „ziviler Ungehorsam“ gegen den Staat und die Stadt gerichtet interpretiert und behandelt. Von dieser Gruppierung aufgedeckte antisemitische Vorkommnisse, die – dem öffentlichem Verständnis folgend – längst „justiziabel“ sind, wurden und werden nicht zur Kenntnis genommen oder bagatellisiert; die Polizei griff nicht entschlossen oder überhaupt nicht ein (siehe Demonstration der Neonazis am 7.7.07). Wo sich Staatsmacht als Bestärkung und Sicherung des von ihr aufgerufenen kritischen Bürgersinns hätte präsentieren und bewähren müssen, ließ und lässt sie diese Menschen im Stich.

Problematisch erweisen sich zudem Implikationen einer neuen Polizeistrategie, die den Neo-Nazis letztlich auch wieder in die Hände arbeitet: wenn sich etwa 8.000 Polizisten zwischen 80 Rechtsradikale und mehrere Hundert oder Tausend Gegendemonstranten stellen, so entsteht in den Köpfen der Menschen unumgänglich die Frage, wer oder was eigentlich das Problem ist. Solche Vorgehensweisen wecken Psychologie, sie erregen die irrige Vorstellung, das Problem wären drohende und zu verhindernde Auseinandersetzungen zwischen Rechtextremen und Nazi-Gegnern. Es ginge um einen Gewaltkonflikt wie er sich vergleichbar zwischen Hooligans zuträgt. Es ginge also nicht um einen Widerstand gegen eine antisemitische und rassistische Bewegung.

Damit macht man aus der Anti-Nazi-Koordination eine zu fürchtende quasi-pubertäre Bewegung, auf gleichem Niveau agierend wie die Neo-Nazis. Vor dem Polizeiknüppel – möchte man sagen – erscheinen nun alle Demonstranten gleich und gleich unverantwortlich handelnd. Die Polizei selbst gibt sich paternalistisch, tritt auf als neutrale dritte Kraft und als wirksamer Garant staatlicher Ordnung ohne politische und moralische Position. Damit wird das Problem neu eingekleidet, an einem anderen Ort lokalisiert, wo es nicht hingehört.

Das heißt, dass die Frankfurter Ordnungspolitik im Umgang mit den Neo-Nazis nicht bloß mit rechtlich gebundenen Händen da steht, sondern tendenziell das „gemeinsame Agieren aller Demokraten“ untergräbt, faktisch und psychologisch. Sie fördert eben jene Tendenzen, die Römerbergbündnis und Anti-Nazi-Koordination unterschiedliche Vorstellungen entwickeln lassen, was angemessene Gegenmaßnahmen sind. Unübersehbar ist auch, dass sich diese Unterschiede nun um einen Gegensatz von älterer und jüngerer Generation herum aufbauen können und auch von daher, gewissermaßen aus „ödipalen“ Quellen heraus, in Gefahr sind, sich weiter zu vertiefen. Ein immer notwendig herzustellender Konsens der Stadtgesellschaft darüber, was die eingeforderte Zivilcourage praktisch bedeutet, kommt allein deshalb nicht mehr zustande.

In diesem Zusammenhang ist besonders die Rolle lokaler Medien und einiger Presseorgane zu kritisieren. So vertun etwa „öffentlich rechtliche“ Hessischer Rundfunk und Hessisches Fernsehen die Chance, die Organisationsstrukturen, die Strategien und Aktivitäten der Antisemiten und Rassisten darzustellen. Lägen ihre besonderen Möglichkeiten doch darin, gerade über die latenten und frühen Äußerungsweisen des Antisemitismus, die Organisationsmechanismen der sich in Grauzonen des antisemitischen Netzwerkes organisierenden Gruppen und die Vorurteils- und Mobbildungen immer wieder kritisch aufzuklären, also besonders das, was den Grad von offener Rechtsverletzung noch gar nicht oder nicht mehr erreicht hat.

Stattdessen werden von ihnen selbst die manifesten Straftaten der Neo-Nazis vielfach verharmlost oder ignoriert. Den problematischen politischen, polizeilichen und juristischen Umgang mit ihnen stellen sie kaum in Frage. Auch sie treten wie Schiedsrichter auf, die ihre Neutralität zu wahren und zwischen Streithähnen zu vermitteln hätten. Als ob es hier Neutralität geben könnte! Auch stellen sie sich nicht vor oder neben jene, die die geforderte Zivilcourage aufbringen und damit in Bedrängnis geraten sind. Ja, oftmals ist zu beobachten, wie Protestaktionen in den Berichten dieser Medien entstellt, in flapsiger oder hämischer Weise verunglimpft oder komplett ignoriert werden.

Dieses spezielle Versagen „vierten Gewalt“ ist als besonders sträflich zu bezeichnen, weil sie – mehr noch als die städtischen und staatlichen Verwaltungsorgane und die Justiz – es in der Hand haben, ob die Bürger in dieser Stadt tolerant miteinander umgehen oder nicht. Sie können Gesetzgebungen anregen oder infrage stellen können, sie können Solidarität befördern. Speziell an die Medien in dieser Stadt ist daher die Frage zu stellen, inwieweit sie es sind, die die geforderte Courage, den geforderten zivilen Widerstand gegen Antisemitismus und rechte Gewalt verwirren oder behindern, inwieweit gerade sie damit zum Teil des Problem geworden sind, das sie beauftragt sind mitzuverhindern.

Frankfurt, den 2.4.08
Wolfgang Leuschner
Mitglied der Initiative 9. November