Ruth Lapide – ein Nachruf

Im Oktober 1997 sahen und hörten wir Ruth Lapide zum ersten Mal. Wenige Tage nach dem Tod ihres Mannes Pinchas Lapide hielt sie im Kasino der Goethe-Universität einen Vortrag zum Thema „Zum Leben berufen, Ansätze einer biblischen Ethik zur Genetik“ im Rahmen des Symposiums „Medizin und Antisemitismus, Historische Aspekte des Antisemitismus in der Ärzteschaft“. Sie begann folgendermaßen:

„Wie schützt sich eine Weltreligion, deren Glaubensgut in einem inspiriertem Schrifttum verewigt worden ist, vor der Gefahr der legalistischen Erstarrung und der theologischen Arterienverkalkung? Die jüdische Antwort auf diese berechtigte Frage, die nicht nur alle Weltreligionen angeht, sondern auch juridische und philosophische Implikationen hat, steht auf zwei Beinen: Vor allem geht es um die unüberbietbare Heiligkeit und Unantastbarkeit des Menschenlebens – ein Prinzip, das der Leitstern aller jüdischer Tradition und Gesetzgebung ist und bleibt. Hinzu gesellt sich der Leitsatz, der in der Bibel sieben Mal wiederholt wird: „Durch diese Gebote sollt Ihr leben!“ Die Rabbinen betonen dieses Leitwort – als Aufruf zur stetigen Neuerforschung der Schrift, um ihr jeweils jenen lebensfordernden Sinn abzugewinnen, der das Hauptanliegen der Bibel ist.“

Ruth Lapide bei der Feier der Initiative 9. November 2007 „Es wären 100 Jahre…..“

Ruth Lapide, die am 30.8.2022 im Alter von 93 Jahren in Frankfurt verstorben ist, hat diesen Aufruf zeitlebens ernst genommen, indem sie unermüdlich neue Erkenntnisse ihrem immensen Wissensschatz hinzugefügt hat.

Zum Zeitpunkt ihrer Geburt, im Juni 1929, wurde das Wochenfest Schawuot gefeiert, hinzu kamen nach jüdischer Tradition das Gedenken an Ruths und König Davids Geburtstag sowie an die Übergabe des Dekalogs am Berg Sinai. Ihre Eltern, die Rabbinerfamilie Rosenblatt in Burghaslach in Franken, konnten sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits ihre Vorfahren bis in das 12. Jahrhundert nachweisen. Als Historikerin betonte Ruth Lapide in privaten Gesprächen gern diese tiefe Verwurzelung in Mittel- und Unterfranken, erwähnte nicht ohne Stolz ihre Urururgroßmutter Glückel von Hameln (17. und 18. Jahrhundert), die – außergewöhnlich zu dieser Zeit – eine Autobiografie geschrieben hatte. Auch der erste jüdische deutsche Richter kam aus ihrer Familie: Gabriel Riesser. Ihr Vater war Rabbiner, betrieb aber hauptberuflich erfolgreich einen Weinhandel, der sofort 1933 von den örtlichen Nationalsozialisten untersagt wurde. Kindergarten- und Schulbesuch wurden seiner Tochter verweigert. Früh wurde die soziale Situation so gefährlich, dass sich die gesamte Familie über längere Zeit im Wald verstecken musste. 1938 gelang die Flucht nach Palästina.

Als 9jähriges Mädchen kam Ruth Rosenblatt mit Hilfe der Jugendalija nach Haifa in ein Kinderheim, wurde dort erstmals eingeschult und lernte v.a. die hebräische Sprache. Während ihrer anschließenden Ausbildung zur Bankkauffrau kamen Englisch, Aramäisch (die Sprache Jesu), Griechisch und Latein dazu, wichtige Grundlagen für ihr Studium, das sie 1948 in Jerusalem begann. Sie wählte Politikwissenschaft, Geschichte des zweiten Tempels, Geschichte Europas und Judaistik, schon mit dem Schwerpunkt des Christentums innerhalb des Judentums, dabei mit gleicher Intensität das Studium des Alten und Neuen Testaments.

Die Begegnung mit Pinchas Lapide in Jerusalem führte zwei Menschen mit gleichem Schicksal, gleichen Interessen und gleichen Visionen zusammen, die in der Zeit ihrer Ehe bereits ein großes Werk schufen (das Ruth L. dann allein fortsetzte), das weltweit beachtet wurde, wobei allein die 35 gemeinsamen Bücher in 12 Sprachen übersetzt wurden.

Um diese besondere Arbeits- und Lebensgemeinschaft etwas besser verstehen zu können, will ich ein paar Sätze zu Pinchas L. schreiben: Geboren am 28.11.1922 in Wien erlebte er ab 1934 den spezifischen Austrofaschismus und mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 die systematische Zerstörung der jüdischen Kultur und Lebensverhältnisse. 16jährig wurde er zusammen mit 6500 jüdischen Männern sofort verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt. Er konnte fliehen, erreichte über die Tschechoslowakei und Polen England, von wo er 1940 nach Palästina weiterfloh. Da Rommel mit seinem Afrikafeldzug Palästina gefährlich nahekam, kehrte er nach England zurück, um in der britischen Armee zu kämpfen.

Nach Kriegsende nahm er an der Hebräischen Universität Jerusalem ein Studium der Romanistik und Religionswissenschaften auf, ebenfalls mit Schwerpunkt auf Altem und Neuem Testament. Von 1951 bis 1969 arbeitete er als Diplomat und Leiter des Presseamtes für die israelische Regierung. Sohn Yuval kam im August 1961 zur Welt.

„Wenn nicht wir, wer dann, um die Menschen dort aufzuklären, wo die Wurzel des Übels war und eine Versöhnung zwischen Christen und Juden dringender denn je gebraucht wird, damit sich solch ein Übel niemals wiederhole.“

Mit dieser Aussage und in dieser Überzeugung kehrte die junge Familie 1974 zurück nach Europa und entschied sich für Frankfurt.

Beide wurden zu bedeutenden Brückenbauern, förderten in Wort und Schrift den jüdisch- christlichen Dialog und waren gefragte Dozenten in Institutionen, Universitäten, Rundfunk und Fernsehen. Ruth L. wirkte bei mehreren großen Veranstaltungen unserer Initiative mit, begleitete und unterstützte interessiert unsere Arbeit, freute sich auch über privaten Kontakt. Wie bei ihren öffentlichen Veranstaltungen war sie auch bei diesen Treffen eine große, überaus lebendige Erzählerin, die nebenbei v.a. Übersetzungsfehler in AT und NT erklärte und uns vergnügt ihre neuen Bücher nahebrachte. Drei originelle Titel sind besonders in unserer Erinnerung geblieben: „Kennen Sie Adam, den Schwächling? ; Kennen Sie Jakob, den Starkoch? ; Liebe, Lust und Leidenschaft, Familiendramen in der Bibel (zusammen mit W. Flemmer)“. Zwei ihrer „Lieblingsfehler“ will ich nennen, weil sich die Luther- Übersetzung hartnäckig hält:

1. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – richtig heiße es: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ 2. „ Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt. – richtig heiße es: Eher passt ein Tauende durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt.“ Bedeutend in diesem Kontext wurden ein Hauptwerk „Ist die Bibel richtig übersetzt?“ sowie das Buch „Der Jude Jesus. Thesen eines Juden. Antworten eines Christen.“. Ihren Mann gewürdigt hat Ruth L. in einer Biografie.

Beide wurden vielfach ausgezeichnet. Ruth L. 2000 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande; der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt; 2003 mit dem Hessischen Verdienstorden am Bande; 2012 mit dem Wolfram-von- Eschenbach-Preis Mittelfranken, der sie besonders rührte. Zur Professorin honoris causa an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg wurde sie 2007 ernannt.

Auf dem Podium bei der Feier 2007 von links: Ruth Lapide, Alfred Rosenthal, Dr. Ruth Fühner (HR), Rabbiner Bernard Jacobson von der Breuergemeinde New York, Cilly Peiser

Bei ihr als Studentin zu lernen, hätte ich mir sehr gewünscht. Sie hat uns Christen neugierig auf die eigene Religion gemacht, diese in ganz neue Zusammenhänge gebracht sowie die Gemeinsamkeiten der drei Buchreligionen betont.

Zwei Geschenke hat sie uns einst privat gemacht jeweils verbunden mit einer besonderen Geschichte: einen Krug aus Israel und ein Büchlein von Pinchas Lapide. Weil einer der Texte gut die Arbeit der Initiative abbildet, will ich ihn zitieren:

„Ich bin kein Pessimist – aber auch kein Optimist. Ich bin ein Meliorist, der davon überzeugt ist, daß diese Welt weder heil noch heillos ist, wohl aber heilbar – wenn viele kleine Leute viele kleine Schritte zum großen Ziel hin unternehmen.“

Wir verneigen uns vor Ruth Lapide und ihrer großen Lebensleistung. Sie hat uns immer wieder über Jahrzehnte die Hand gereicht und in ihrer Person vermittelt, dass Aufklärung und Zusammenleben im gegenseitigen Respekt möglich sind. Wir werden sie vermissen und die Erinnerung an sie bewahren.

Frankfurt, 1.9.2022  Elisabeth Leuschner-Gafga

Verschiedene Texte von Mitgliedern der Initiative 9. November zum oben erwähnten Thema „Medizin und Antisemitismus“ einschließlich des Vortrags von Ruth Lapide erscheinen demnächst auf unserer Homepage.