Buchempfehlung: „Die Bildhauerin und das Kind“

Wir freuen uns ein neues Buch unseres langjährigen Mitglieds Petra Bonavita ankündigen zu können. Im März ist die neue Recherche „Die Bildhauerin und das Kind“ im Schmetterling Verlag erschienen.

Im Sommer 1945, nach dem Ende des Krieges, als die besiegten Deutschen sich in Entnazifizierungsverfahren vor den Siegern verantworten mussten, hat Hedwig Wittekind „Die wunderbare Rettung eines kleinen jüdischen Mädchens“ aufgeschrieben.

Wittekind war aus Büdingen und lebte seit den 20er Jahren in Berlin als mehr oder weniger erfolgreiche Künstlerin. Während der Zeit des Nationalsozialismus und besonders seit Beginn des Krieges setzte sie sich für jüdische Freunde und Bekannte ein, die in der Widerstandsgruppe von Saefkow-Jacob-Bästlein u.a. illegale Fluchtgelegenheiten für Verfolgte organisierten. Als dem  Musiker-Ehepaar Müller die Deportation drohte, stellte Hedwig Wittekind ihre Berliner Wohnung als Versteck zur Verfügung. Mit der dreijährigen Tochter Hanna ihrer jüdischen Freunde fuhr sie nach Büdingen, wo Wittekinds Familie lebte und wo sie sich Schutz vor Krieg und Verfolgung für das Kind und für sich selbst versprach. Mehr als ein Jahr lebt sie mit Hanna in der Kleinstadt inmitten wohlwollender, aber auch misstrauischer Nachbarn und Verwandten. So hatte sie zu ihrem Vater, der ein überzeugter Nationalsozialist war, eine besonders schwierige Beziehung. Und sie fiel auf in der bürgerlichen Kleinstadt Büdingen als unangepasste, kettenrauchende Bohemienne.

Der spannende Bericht über diese Zeit, lebendig und warmherzig geschrieben, steht im Mittelpunkt dieses Buches. Er lässt uns unmittelbar teilhaben am Alltag in der Kleinstadt Büdingen während der letzten Kriegsjahre im Nazideutschland. Auf das ungewöhnliche authentische Dokument ist die Autorin Bonavita durch Zufall gestoßen und es hat sie dazu veranlasst, die Spuren der Bildhauerin Hedwig Wittekind weiter zu verfolgen.

Wir lernen eine mutige junge Frau kennen, die sich vor über hundert Jahren gegen die Einwände ihrer Eltern und der damaligen Gesellschaft für ein freies Leben als Künstlerin in der fernen Großstadt Berlin entschieden hat. Sie studiert in Weimar Bildhauerei und arbeitet 10 Jahre lang an der Seite der berühmten Käthe Kollwitz im Berliner Atelierhaus Siegmundshof. Vor allem mit plastischen Porträts macht sie sich einen Namen. Ihre Teilnahme an Ausstellungen ist in Katalogen der Berliner Secession und aus Paris belegt, und Fotos ihrer Büsten, abgebildet in der vorliegenden Dokumentation, beweisen ihr Talent und den festen Platz im Berliner Kunstbetrieb. Leider ist sie heute als Künstlerin vollständig in Vergessenheit geraten.

Der intensive Briefwechsel mit ihrem Bruder Albrecht ist erhalten geblieben und wird im Buch anhand einiger Beispiele dokumentiert. Darin lernt man sie noch einmal anders kennen: als sensible, zweifelnde, aber auch als engagierte und leidenschaftliche Künstlerin, deren prekäre Existenz sie dem Bruder nicht vorenthält. Er unterstützt sie mit Geld, mit Tabak und Zigaretten und mit seiner Zuwendung. Erst 1946, nach der Leidenszeit in vier Konzentrationslagern, kann Hannas Mutter ihre Tochter wieder in die Arme schließen. Der Vater hat die Lagerhaft nicht überlebt.

Hedwig Wittekind sah keine Zukunft mehr für sich als Künstlerin im Nachkriegsdeutschland. Sie nahm sich 1949 in Büdingen das Leben. Der dokumentarische Bericht „Die Bildhauerin und das Kind“ erzählt vom Leben einer außergewöhnlichen Künstlerin und kritischen Zeitgenossin, die in schwierigen Zeiten Mut und Menschenliebe beweist.

Das Buch gibt auch Auskunft über Widerstandshandlungen und Überlebensstrategien für Verfolgte im Nazideutschland. Und es erzählt die Geschichte einer zerrissenen Familie in einer zerrissenen Gesellschaft.